Die markante Form

Gabriele Rothemann, Werke, 2024

 

Gabriele Rothemann, Werke. Hg. Daniele Hammer-Tugendhat

Hatje/Cantz, 2024 / Dt./engl. / 232 Seiten 

 

Unter jeder Textoberfläche sind Spuren eines anderen, fremden Textes“[1] zu finden. Ähnlich sind auch in jedem Bild Spuren anderer Bilder enthalten: Jedes Bild entspringt einem Bildvermächtnis und trägt umgekehrt seinen Teil dazu bei. Bestehende Bilder begleiten laufend den Prozess des Bildermachens und provozierten in den 1980er Jahren die „Aneignung“ als extreme, aber legitime und bis heute anhaltende künstlerische Methode. Boris Groys fasste provokativ 2005 zusammen: „Warum sollen wir eine neue Ästhetik erfinden, wenn wir schon eine haben?“[2] So finden sich auch unter den Bildern von Gabriele Rothemann andere Bilder bzw. Bildsprachen aus vielen Bereichen. Die Künstlerin tritt mit ihnen in ein „Bedeutungs-Spiel von Aneignung und Transformation“[3] , schält relevante Bildaussagen bzw. deren formale Manifestation heraus und generiert eine zeichenhafte Symbolik, durch welche die neuen Bilder gleichzeitig Zitat und autonom sind.

 

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[1] Julia Kristeva, Sèméiotikè, Paris 1969, S. 183. Zitiert von Schamma Schahadat, „Intertextualität: Lektüre – Text – Intertext“, in: Einführung in die Literaturwissenschaft, hg. von M. Pechlivanos/S. Rieger/W. Struck/M. Weitz, Stuttgart 1995, S. 366.

[2] Boris Groys, Banalität ohne Ausweg ist extrem romantisch, in: Kunstforum 174/2005, S. 380–384.

[3] Sebastian Schütze, Schlangenrituale, in: Gabriele Rothemann, Hab und Gut, Booklet zur Ausstellung im Fotoraum Wien, 2012.

 

Kann man Fototechnik gendern?

Ja, sagt eine Künstlerinnen-Gruppe aus Wien: FOTOTECHNIKA 

 

Caroline Heider, Ruth Horak, Claudia Rohrauer, Lisa Rastl

 

 

 

Andy Scholz hat uns dazu interviewt und zwei Episoden herausgebracht:

 

2000er

Hg. Brigitte Borchhardt-Birbaumer, Berthold Ecker, Verlag für moderne Kunst, 2023, Dt./engl. / 552 Seiten 

 

Was haben die 2000er Jahre mit der Fotografie gemacht?

 

Es ist das letzte Jahrzehnt, bevor alle ständig fotografieren, bevor die Fotografie immateriell wird, vor WhatsApp (2009), vor Instagram (2010) und lange vor einer AI-Fotografie (2020), die noch einiges ins Wanken bringen wird. Man hat sich mit der Erkenntnis der 1990er Jahre arrangiert, dass die Digitalisierung nicht nur das Ende von gedruckten Lexika und per Post verschickten Briefen bedeuten würde, sondern auch das Ende der analogen Fotografie. Schließlich waren die Vorteile evident: Der Fotografie stehe nun eine Zeit ohne Chemie bevor, sie würde einfacher zu verbreiten sein, und die meisten Anwendungen benötigten ohnehin keine Ausdrucke, weil sie als kleine Erinnerungen oder bloße Nachrichten besser immateriell bleiben.

 

Aber das Bewusstsein um das Ende der analogen Fotografie, das heißt der Qualität von Filmen, Papieren und Verfahren, die das Aussehen wesentlich beeinflussen, veranlasste Künstler:innen, über ihr Medium zu reflektieren, einen Tribut an die Fotografie zu inszenieren, Das letzte Labor einzurichten (Petignat + Scholz) oder die Last Prints (Horakova + Maurer) in Auftrag zu geben.

 

 

 

Lesen Sie weiter im Buch 2000er oder im Magazin des WIenmuseums

 

Andrea van der Straeten, Burning down the house, Werkschau XXVIII,  Fotogalerie Wien, 2023

 

Andrea van der Straetens Arbeiten sind repräsentativ für die Veränderungen, die ab den 1980er Jahren das Medium Fotografie erfassten und in den Kunstbetrieb geleiteten, wo es mit offenen Armen empfangen wurde. Fotograf:innen verstanden und benützten das Medium, um die Welt zu porträtieren, Künstler:innen hingegen „arbeiteten“ mit der Fotografie, was nicht einmal bedeuten musste, dass sie selbst fotografierten, sondern Bilder reproduzierten, Fotografen[1] beauftragten, oder fotografische Materialien und Prozesse benützten, aber keine Kamera. Als Teil dieser Bewegung konzipierte Andrea van der Straeten Fotografien für die Wand, sprengte die Formate, präsentierte ihre Fotos auf raumgreifenden Displays oder am Boden liegend, nützte die neuen großen Papierformate oder vorgefärbte Spezialpapiere, die auf den Markt kamen. Seither bewegt sie sich an den Rändern der Medien und sabotiert auch mal Technik und Material. Ihre Werke sind politisch, feministisch und kulturhistorisch, ihre visuelle Sprache ist lebhaft, formenreich und einprägsam.

 

Lesen Sie mehr in: Andrea van der Straeten, Burning down the house, Katalog zur XXVIII. Werkschau in der Fotogalerie Wien.


[1] In den 1980er-Jahren waren alle „Fotografen“, da noch nicht gegendert wurde.

 

ANDREA VAN DER STRAETEN

BURNING DOWN THE HOUSE

Hg. Fotogalerie Wien

Dt./engl./40 Seiten/2023

Künstliche Intelligenz aber analoge Fotografie

 

Eine Ausstellung im Juni 2023. Die rund 100 überwiegend kleinformatige Fotografien schienen allen Regeln der analogen Fotografie zu gehorchen: Die Materialien waren klassische Fotopapiere, mit Fotoemulsion beschichtete Glasplatten und Keramiken oder etwa ein großformatiges Polaroid. 

 

 

Die gezeigten Szenen waren im Stil der frühen 20. Jahrhunderts, anlog war auch der „Look“ der Fotografien mit Chemieschlieren, Unschärfebereiche oder verschiedene Körnigkeiten und passend die Präsentation auf Carte-de-visites-Kartons mit Prägestempel oder in alten Rahmen. 

 

„Verdächtig“ hingegen waren einzelne Motive, weil atypisch für das  frühe Jahrhundert: einander zugetane Männer?, sich küssende Frauen?, oder ein eleganter Herr? mit Baby am Schoß. 

Viele der 100 Porträts wirkten wie erstmals veröffentlichte Fundstücke, die einst jemand (absichtlich) zur Seite räumte, um Tatsachen zu verschleiern. Als sei es jetzt an der Zeit, die Geschichte der Geschlechter zu korrigieren und nachträglich Beweise für non-binäre Identitäten zu liefern, hat Marlene Fröhlich sie ans Licht befördert. 

 

Dafür verknüpfte sie zwei Welten, die sich auf ersten Blick widersprechen: fiktive Text-to-image Bilder – das Vokabular der zugrunde liegenden Prompts musste übrigens oft eindeutiger sein, als es der Autorin Recht war – und ihre Materialisierung mittels konkreter analoger Fotoprozesse[1].

 

[1] Die meisten Negative (von z.B. abfotografierten Bildschirmen) hat sie selbst in der neuen Farbdunkelkammer an der Universität für angewandte Kunst Wien ausbelichtet.

 

 

 

Marlene Fröhlich, Studio Supplement, 2023

 

Was bedeutet eine solche diskursive Arbeit, die den Nerv der Zeit trifft, für die aktuelle Debatte, wohin sich die Fotografie entwickeln wird? Ist sie eine Kritik an unserem Vertrauen, das wir solchen Bildern entgegenbringen? Ist sie eine Vorwegnahme der Selbstverständlichkeit, die KI-generierte Bilder für uns in absehbarer Zeit haben werden? Ist diese „Collage“ einer KI aus bestehenden Bildern nur die logische Konsequenz unserer übermäßigen Massenproduktion an Bildern oder unseres affirmativen Verhaltens, sämtliche Tätigkeiten ins Digitale zu verlagern? Neigen wir dazu, die Materialisierung als Beweis zu akzeptieren, dass reale Szenen den ausbelichteten Bildern zugrunde liegen? Und kann man mit solchen Bildern nachträglich Tatsachen „korrigieren“, die man unter den Tisch gekehrt hat?

 

Bei Rotlicht steht die analoge Fotografie als Medium für künstlerische und dokumentarische Arbeiten im Zentrum. Es geht um das Experimentieren mit den fotografischen Prozessen und die Rolle der analogen Fotografie als adäquates Ausdrucksmittel für „analoge“ Themen[1]. Dabei findet jedoch unweigerlich eine stete (Neu)Bestimmung des Mediums insgesamt sowie des einzelnen Fotos statt, eine Kennzeichnung seiner Herkunft und eine Präzisierung seiner Form, und nicht zuletzt welche Haltung wir mit einer analogen Fotografie in unserer heutigen Welt verbinden.

 

[1] „analog“ ist hier im Sinne von „ursprünglich“, „natürlich“, „greifbar“ gemeint

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© Ruth Horak